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Grausame Schicksale
Susanne Abel hat sich in ihrem neuen Roman dem Schicksal der vielen Kinder gewidmet, die im Krieg von ihren Eltern getrennt wurden und zum Teil als Waisen in Kinderheime kamen. Am Beispiel von Margret und Hardy erfährt man, was ein Leben in diesen Heimen unter der Obhut von strengen Nonnen und Pfarrern bedeutete: Schläge, unmenschliche Bedingungen, Missbrauch, Essensentzug, Medikamentenmissbrauch, regelrechte Einzelhaft - die Dinge der Gräueltaten ist endlos. Es ist harter Stoff, den Susanne Abel hier erzählt, und doch glaubt man sofort jedes Wort. Zu häufig erfährt man in den letzten Jahren in den Medien von Menschen, die solche Schicksale ihr Leben lang versucht haben zu verarbeiten. Und so wie am Beispiel von Hardy und Margret oft erfolglos. Denn hier geht es nicht nur um die Erlebnisse der schwer traumatisierten Kinder, sondern auch ihre Auswirkungen auf das weitere Leben und das ihrer Nachkommen.
Abel erzählt auf zwei verschiedenen Zeiteben und man erfährt die Geschichte von gleich vier Generationen. Dabei liegt der Fokus auf der Urenkelin Emily, die die meiste Zeit bei ihren Urgroßeltern lebt und aufwächst. Die nie verarbeiteten Erfahrungen in der Kindheit führen zu Verhaltensweisen, die in den nachfolgenden Generationen viel Unverständnis hervorruft. Denn die Unfähigkeit, über das Erlebte zu reden, wird in dieser Familie immer weiter gegeben. So ist es vor allem Emily, deren Fragen nie beantwortet werden, die ihren Vater nicht kennt, die sich Sorgen um ihre Urgroßeltern macht und merkt, dass sie nie die ganze Wahrheit erfährt. Gerade ihre Person ist es, die nach Margret und Hardy die meisten Emotionen hervorruft. Konfrontiert mit der Sprachlosigkeit der Urgroßeltern, einer chaotischen und überforderten Mutter und einer lieblosen Großmutter hat dieses heranwachsende Mädchen eine unglaubliche Stärke und Reife, droht aber auch häufiger daran zu zerbrechen.
Dieses Buch ist zutiefst berührend, es schildert eindringlich ein tiefdunkles Kapitel deutscher Geschichte am Beispiel von fiktiven Personen, die für die vielen wahren Fälle stehen. Kein leichter Lesestoff, was die Autorin bereits in ihrem Vorwort ankündigt. Auch das Nachwort ist sehr interessant, hier schildert Abel für mich sehr emotional, wie es zu dem vorliegenden Roman kam.
Eine Leseempfehlung für Menschen mit starken Nerven und Interesse an deutscher Nachkriegs-Geschichte. Toll geschrieben aber keine leichte Lektüre. -
Wenn Schweigen manchmal lauter ist als Worte
Ein kleiner Junge ohne Herkunft, eine Freundschaft fürs Leben und das Schweigen über traumatische Erfahrungen, das Generationen prägt – darum geht es in "Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104". Susanne Abel, die vielen durch ihre „Gretchen“-Reihe bekannt ist, erzählt hier erneut mit Feingefühl und Präzision von Menschen, die durch ihre Vergangenheit gezeichnet sind. Die Autorin, selbst erfahrene Dokumentarfilmerin, nutzt ihre Gabe, Geschichten lebendig und zugleich gesellschaftlich relevant zu machen.
Worum geht’s genau?
Der Junge Hardy wächst nach dem Krieg als „Nr. 104“ in einem Kinderheim auf. Dort lernt er Margret kennen, die ihn beschützt und sein Leben lang begleiten wird. Beide versuchen, sich trotz Missbrauch, Hunger und Züchtigung eine Zukunft aufzubauen. Doch das Schweigen über das Erlebte lastet nicht nur auf ihnen, sondern prägt auch Tochter Sabine, Enkelin Julia und Urenkelin Emily. Erst diese beginnt, die Geheimnisse der Familie aufzubrechen.
Meine Meinung
Das Buch hat mich von der ersten Seite an gefesselt – trotz (oder gerade wegen) der Schwere des Themas. Abels Schreibstil ist klug, einfühlsam und zugleich erschütternd ehrlich. Besonders stark fand ich, dass gleich zu Beginn eine Triggerwarnung steht – ein wichtiges Signal bei dieser Thematik.
Hardy ist eine Figur, die ich sehr ins Herz geschlossen habe. Seine Sensibilität wird eindringlich gezeichnet: etwa als er sich weigert, Türen im Haus zu haben (S. 31) oder als er behutsam einen verletzten Vogel pflegt – „Hardy war bekannt für seine Feinfühligkeit“ (S. 31). Ein wohltuendes Bild von Männlichkeit, das Stärke und Verletzlichkeit vereint.
Besonders berührend waren für mich aber vor allem die Szenen mit Emily, Hardys Urenkelin, die früh Verantwortung übernehmen muss. Ihr Gespür für andere spiegelt das von Hardy wider. Gleichzeitig wird ihre Zerrissenheit deutlich: Sie fühlt sich oft als Erwachsene im Kinderkörper, nicht zuletzt, weil ihre Mutter Julia sie im Stich lässt. „Kein Kind sollte sich Gedanken machen müssen, ob es der Mutter seinetwegen schlecht geht“ (S. 130).
Das Buch verbindet viele Zeitebenen: von Hardys Kindheit im Heim mit Prügeln, Hunger und Experimenten („verschimmeltes Brot im Keller“, S. 31) bis zu Emilys Jugend, in der sie sich mit den Narben ihrer Familie auseinandersetzen muss. Besonders bedrückend fand ich die Passagen über sexuellen Missbrauch und über die Medikamententests. Diese Kapitel waren nur ganz schwer auszuhalten und gleichzeitig aber so wichtig, weil sie verdrängte Teile unserer Geschichte sichtbar machen.
Abel verwebt aber auch Alltagsbeobachtungen – von Germany’s Next Topmodel über Eurovision bis hin zu Tierquälerei im Karneval – und macht so deutlich, wie politisch und gesellschaftlich unser Alltag ist. Diese Vielschichtigkeit empfand ich als große Stärke.
Das Nachwort der Autorin, das die historischen Bezüge einordnet und die Recherchen von Sylvia Wagner würdigt, war für mich ein wichtiger Abschluss. Es zeigt, wie viel Realität in der Fiktion steckt.
Fazit
Ein zutiefst berührender Familienroman über Trauma, Schweigen und die Kraft von Liebe und Freundschaft. Für alle, die literarisch anspruchsvolle, historische und zugleich hochaktuelle Stoffe lesen möchten – keine leichte Kost, aber unbedingt empfehlenswert.
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