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Das 19.Jahrhundert, das Jahrhundert der Kritik, sah in Sainte-Beuve seinen größten Kritiker. Er wurde verehrt und angefeindet und war unvorstellbar einflussreich. In einer wissenschaftsgläubigen und optimistischen Epoche war Sainte-Beuve - "ein gemütvoller, ja gemütlicher Autor", wie Walter Benjamin ihn nannte - ein von Angst erfüllter und zerissener Mensch, der vieles vorausahnte von den Schrecken, in die sich die moderne Welt bald stürzen sollte. Sainte-Beuve ist bis heute umstritten. Mit Nietzsche mag man in ihm den kratzbürstigen und rachsüchtigen Kritiker sehen - und mit Henry James seine Urteilsschärfe bewundern. Mit Marcel Proust mag man ihm vorwerfen, vor lauter Begeisterung für die Oberfläche einer Biografie das "moi profond" des Autors zu erkennen - und mit George Steiner in ihm den einzigen Kritiker sehen, der auch als Autor, als großer Erzähler von Literaturgeschichten, lebendig geblieben ist. Sainte-Beuve ist ein scharfer und klarsichtiger Kritiker der Moderne. Er ist konservativ, aber nicht reaktionär: er nimmt die Prozesse, in denen sich die Gesellschaft seiner Zeit demokratisiert und industrialisiert, verweltlicht und verwissenschaftlicht, mit Bedauern zur Kenntnis. Aber er weiß auch, dass sie unumkehrbar sind. Radikal in seinen Enttäuschungen, in seinen Erwartungen Realist, war Sainte-Beuve kein Fanatiker. Er war nicht feige, wie Nietzsche behauptete, sondern vorsichtig. Und von allen Ideologien probierte er, ein großer Neugieriger des 19. Jahrhunderts, nur ein wenig, um schnell zur Hausmannskost des "bon sens" zurückzukehren.
Wolf Lepenies hat mit seiner großangelegten Studie über Sainte-Beuve zugleich ein brillantes Buch über das 19. Jahrhundert und die Rolle der Kritik geschrieben. Ausgezeichnet mit dem Forschungspreis für Romanistische Literaturwissenschaft.
About the author
Wolf Lepenies ist seit 1986 Rektor des Wissenschaftskollegs und Professor für Soziologie an der FU Berlin. 2006 erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Summary
Das Porträt von Augustin Sainte-Beuve, dem größten Kritiker im Paris des 19. Jahrhunderts. Jeden Montag wartete das gebildete Pariser Publikum mit Ungeduld auf seine Artikel in der Tageszeitung. In seinem Haus verkehrten die literarischen Berühmtheiten der Epoche: neben Flaubert, die Brüder Goncourt, Renan, George Sand, Théophile Gautier und viele andere. Er gilt heute als ein großer Kritiker der Moderne. Wolf Lepenies hat mit seiner großangelegten Studie über Sainte-Beuve zugleich ein brillantes Buch über das 19. Jahrhundert und die Rolle der Kritik geschrieben. Ausgezeichnet mit dem Forschungspreis für Romanistische Literaturwissenschaft.