Share
Fr. 24.50
Michelle Shocklee, Silvia Lutz
Was wir für wahr gehalten haben
German · Paperback / Softback
Will be released 01.06.2025
Description
Tullahoma, Tennessee
November 1969
Das erste Telegramm, das ich in meinem ganzen Leben gelesen hatte, hatte meine Welt erschüttert.
Das zweite kam ein Jahr später und zog mir den wenigen Boden unter den Füßen weg, den ich in diesen langen, bedrückenden Monaten mühsam wiedergefunden hatte. Wegen dieses Telegramms saß ich seit drei Tagen am Stück in diesem schmutzigen Greyhound-Bus. Mir graute davor, was mich am Ende meiner Fahrt erwarten würde.
Deine Mama liegt im Sterben. Sie braucht dich. Komm nach Hause.
Die kurze Nachricht war von Papa gekommen.
Es war keine Bitte.
Die kühle Abendluft wehte den Gestank der Dieselabgase durch das halb geöffnete, schmutzverschmierte Fenster ins Innere des Busses, als er in den Busbahnhof bog - mit zwei Stunden Verspätung aufgrund eines Unfalls auf der Landstraße vor Pulaski. Eine Handvoll Leute standen vor dem Gebäude und warteten auf Angehörige oder Freunde, aber nach einem schnellen Blick über die Gesichter war mir klar, dass Papa nicht unter ihnen war. Ich war enttäuscht und gleichzeitig besorgt und voller Angst, die mich seit dem Telegramm von ihm gar nicht mehr losließ. Kein einziges Wort, dass ich willkommen sei, kein Versprechen auf eine Versöhnung. In seiner Nachricht stand lediglich, dass meine Mutter nicht mehr lange leben würde und mich zu Hause brauchte.
Sie brauchte mich zu Hause.
Und er?
Mehrere Fahrgäste nahmen ihr Gepäck und begaben sich durch den Mittelgang zum Ausgang. Ich schloss die Augen und lehnte die Stirn an die kühle Fensterscheibe, da die Entscheidung, mit der ich rang, seit ich in Los Angeles in diesen Bus gestiegen war, immer noch nicht feststand.
Sollte ich aussteigen und mich allem und jedem stellen, was ich seit Marks Tod zu vergessen versuchte? Oder blieb ich im Bus sitzen, fuhr in die nächste Stadt weiter und schlug damit die Tür zu meinem Zuhause für immer zu?
Ich hatte geschworen, nie wieder nach Tullahoma zurückzukommen. Als ich zornig und voller Trauer an jenem eisigen Novembertag vor einem Jahr aus dem Haus gestürmt war, hatte ich keinen einzigen Blick zurückgeworfen. Warum auch? Mark war tot. Mein Zwillingsbruder war meine Welt gewesen, auch als er auf der anderen Seite der Erde in einem Krieg gekämpft hatte, den ich nicht befürworten konnte.
'Miss?'
Ich schlug die Augen auf.
Der grauhaarige Mann, der in Little Rock das Steuer übernommen hatte, stand vor mir und sah mich an. 'Sie müssen hier aussteigen, nicht wahr?'
Ich blickte hinter ihn. Die anderen Fahrgäste, die Fahrkarten nach Tullahoma gekauft hatten, waren nicht mehr zu sehen. Der Moment der Entscheidung war gekommen.
Ein Blick durchs Fenster zeigte die verschlafene Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war. Diese Stadt hatte ich nie wiedersehen wollen. Aber ich konnte Mama doch nicht im Stich lassen. Nicht jetzt.
Nicht schon wieder.
'Ja, ich steige aus', sagte ich. 'Ich muss nur noch meine Sachen zusammenpacken.'
Der Fahrer nickte und kehrte zum Fahrersitz zurück.
Während ich meinen Pullover und ein halb gegessenes Sandwich in meine Reisetasche stopfte, schaute mich die ältere Frau auf der anderen Seite des Gangs finster an, verärgert, dass sie durch meine Trödelei noch später als ohnehin schon in Nashville ankommen würde. Seit sie in Albuquerque eingestiegen war, hatte sie mich nicht ein einziges Mal freundlich angesehen, sondern mich kritisch beäugt und mich von Kopf bis Fuß gemustert - meine weit ausgestellte, ausgefranste Jeans, meine bunt bedruckte, weite Bluse und mein langes Haar, das dringend gewaschen werden musste. 'Hippie', hatte sie abfällig gemurmelt, als sie auf ihrem Sitz Platz genommen hatte. Der Bus war nicht voll besetzt. Dadurch hatten die meisten Fahrgäste eine Sitzbank für sich allein, aber die Verachtung in ihren Augen, als sich unsere Blicke begegnet waren, hatte deutlich gezeigt, dass eine freundliche Unterhaltung während der langen Fahrt nicht infrage kam. Das war mir auch ganz recht gewesen.
Während ich mich durch den schmalen Gang nach vorn schob, folgten mir noch mehr finstere Blicke. Niemand bot an, mir mit meiner schweren Tasche zu helfen, nicht einmal der Busfahrer, der eine abgegriffene Straßenkarte mit Eselsohren studierte und mich völlig ignorierte. Noch bevor meine Füße den Asphalt richtig berührten, schloss er schon hinter mir die Tür, legte den Gang ein, gab Gas und hüllte mich in eine schwarze Wolke aus Abgasen.
Hustend und schimpfend überlegte ich, was ich jetzt tun sollte. Papa wusste, dass ich kam. Ich hatte ihm per R-Gespräch von Memphis aus mitgeteilt, wann der Bus ankommen würde. Es war das erste Mal nach zwölf Monaten gewesen, dass ich mit ihm gesprochen hatte. Nach einer langen Pause hatte er erklärt, dass er mich abholen würde, und dann aufgelegt.
Aber er war nicht da. Suchend sah ich mich auf dem Parkplatz um. Zwei Autos und ein alter Pick-up waren zu sehen, aber ich kannte keines dieser Fahrzeuge.
Mir blieb wohl keine andere Wahl, als ins Bahnhofsgebäude zu gehen und zu fragen, ob ich das Telefon benutzen dürfte, da ich mein letztes Geld für das Sandwich ausgegeben hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich besorgt, ob Papa es sich anders überlegt hatte. Vielleicht wollte er mich doch nicht hier haben. Oder Mamas Zustand hatte sich verschlechtert und ...
'Mattie?'
Beim Klang dieser Männerstimme zuckte ich zusammen. Ich drehte mich um und stand einem großen Mann in Jeans gegenüber. Er lehnte an dem Pick-up auf dem Parkplatz, dessen offene Fahrertür verriet, dass er schon die ganze Zeit im Wagen gesessen hatte. Durch die Baseballkappe, die er sich so tief in die Stirn gezogen hatte, dass ein Schatten auf sein Gesicht fiel, konnte ich nicht erkennen, wer er war. Wahrscheinlich jemand, der mit mir zur Schule gegangen war, aber ich hatte absolut keine Lust, mit irgendjemandem über alte Zeiten zu plaudern.
'Sie müssen mich mit jemandem verwechseln', erwiderte ich und setzte meinen Weg zum Bahnhofsgebäude fort.
Er stieß ein humorloses Lachen aus. 'Dieselbe eigensinnige Mattie Taylor wie immer.'
Ich drehte mich wieder zu ihm um und kniff die Augen zusammen, um sein Gesicht erkennen zu können. Mir fiel die Kinnlade herunter. 'Nash?'
'Du hast wohl nicht damit gerechnet, mich hier zu sehen?'
Seine Frage wäre lachhaft gewesen, wenn nicht plötzlich ein stechender Schmerz mein Herz durchbohrt hätte, weil er am Leben war und unversehrt hier vor mir stand. Warum war Nash McCallum aus dem Krieg nach Hause gekommen und Mark nicht?
Er bewegte sich mit langsamen Schritten auf mich zu. Als wir uns in die Augen schauten, sah ich den Jungen, der Marks bester Freund gewesen war, solange ich zurückdenken konnte.
'Ich wusste gar nicht, dass du nach Hause gekommen bist.'
Ein Moment verging, bevor er die Achseln zuckte. 'Na ja, sie können einen dort nur gebrauchen, wenn man noch alle seine Gliedmaßen hat.'
Seine leisen, harten Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken. Ich schaute ihn genauer an. Er hatte eindeutig beide Beine und beide ...
Mir stockte der Atem.
Der linke Ärmel seines Jeanshemds steckte in seinem Hosenbund. Aus der Ferne war mir nicht aufgefallen, dass der Ärmel leer war.
'Ich ... ich hatte keine Ahnung.'
'Nein, natürlich nicht.'
Unsere Blicke begegneten sich erneut. Verurteilten mich seine grünen Augen?
'Dein Vater wollte dich selbst abholen, aber als wir gehört haben, dass der Bus Verspätung hat, hat er mich darum gebeten.' Er nahm meine Reisetasche. 'Du kannst es sicher nicht erwarten, nach Hause zu kommen.'
Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.
War das alles ein riesengroßer Fehler? Wollte ich wirklich allen unter die Augen treten, denen ich am Tiefpunkt unseres Lebens den Rücken gekehrt hatte? Nashs kühler Empfang war wahrscheinlich noch die herzlichste Begrüßung, die ich erwarten konnte, nachdem ich mich vor einem Jahr sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hatte.
Er warf meine Tasche auf die Ladefläche, dann öffnete er die Beifahrertür und wartete.
Ich sagte kein Wort und stieg ein. Nash schlug die Tür zu und ging um den Wagen herum auf die Fahrerseite. Der Motor erwachte dröhnend zum Leben und wir fuhren los. Die Pferdefarm meiner Familie befand sich fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt. Diese Strecke hatte ich unzählige Male zurückgelegt - auf dem Weg zur Schule, zu einer Freundin oder zu Marks Footballspielen. Heute erschien mir jeder Kilometer erdrückend und endlos.
Im schwächer werdenden Herbstlicht wirkte alles vor dem Fenster sonderbar fremd und gleichzeitig beruhigend vertraut. In diesen Häusern wohnten Menschen, die mich schon von klein auf kannten. Auf den Wiesen weideten Pferde oder Black-Angus-Rinder. Nach einem Jahr in Kaliforniens riesigen Großstädten weckte dieser friedliche, ländliche Anblick etwas tief in mir. Eine Sehnsucht, die ich ignoriert hatte, seit ich vor allem und jedem weggelaufen war.
Eine Sehnsucht, die in Tullahoma nie würde gestillt werden können.
Ich warf einen verstohlenen Blick auf Nash. Vor vier Jahren hatte ich ihn das letzte Mal gesehen. Da war er ein schlaksiger Teenager gewesen. Jetzt war er kräftig und muskulös und seine jungenhaften Gesichtszüge waren hart geworden. Er war zwar schon immer eher ein stiller Typ gewesen, aber sein eisiges Schweigen gab mir deutlich zu verstehen, dass er mir nichts zu sagen hatte. Mich interessierte trotzdem, warum er am Busbahnhof gewesen war.
'Warum hat Papa dich gebeten, mich abzuholen?'
Als ein Wagen auf der schmalen Landstraße an uns vorbeiraste, verkrampften sich seine Finger um das Steuer. Schlagartig fiel mir wieder ein, dass er ja nur eine Hand hatte, um das Auto zu lenken. Als er den Gang eingelegt hatte und losgefahren war, war mir das gar nicht aufgefallen.
'Ich arbeite für deine Eltern', sagte er, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
'Du arbeitest für meine Familie? Aber du bist doch ...'
Ich verstummte, aber es war zu spät.
'Mechaniker.' Er warf mir einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. 'Niemand ist wild darauf, einen einarmigen Mechaniker einzustellen. Man hat mir meine alte Stelle in der Kfz-Werkstatt nicht wiedergegeben.'
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Daher entschied ich mich erneut für Schweigen.
Nash nahm den Fuß vom Gas und bog von der Hauptstraße auf eine private Zufahrtsstraße. Es war eine holprige Fahrt über den Schotter und durch die Schlaglöcher und wir zogen eine Staubwolke hinter dem Pick-up her, während sich mein Magen nervös zusammenzog. Die ersten Sterne tauchten am Himmel auf und die sanften Hügel und die herbstgrünen Wiesen waren mit den Farben der Abenddämmerung getränkt. Erst als ich beim Anblick des getünchten Bauernhauses tief ausatmete, merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte.
Unser Haus.
Aber mein Zuhause war es nicht mehr.
Nash brachte den Pick-up neben dem Haus zum Stehen und stellte den Motor ab. Keiner von uns machte Anstalten auszusteigen. Mein Blick wanderte zum Fenster im ersten Stock über der Veranda. Mamas Fenster. Gedämpftes gelbes Licht drang durch die Vorhänge.
Liegt sie wirklich im Sterben?
Diese Frage vermied ich seit vier Tagen. Ich weigerte mich, darüber nachzudenken. Ich ging sogar so weit, meinen Vater zu verdächtigen, er hätte gelogen, nur um mich nach Hause zu locken. Aber als ich hier vor dem Haus zum Schlafzimmerfenster hinaufblickte, konnte ich nicht länger so tun, als wüsste ich nicht, was los war.
'Wie schlimm steht es um sie?' Ich schaute Nash nicht an, da ich die Antwort in seinen Augen nicht sehen wollte.
Er antwortete nicht sofort. Schließlich kam ein schweres Seufzen über seine Lippen, dann sagte er: 'Der Arzt glaubt nicht, dass sie Weihnachten noch bei uns ist.'
Bei dieser ernüchternden Wahrheit atmete ich scharf ein. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um das Weinen, das in meiner Kehle aufstieg, zu unterdrücken.
Bis Weihnachten waren es nur noch sieben Wochen.
'Aber sie ist eine Kämpferin', sprach Nash weiter. 'Sie wollte nicht, dass dein Vater dir schreibt. Bis, nun ja, bis kurz vor dem Ende.'
Ich drehte mich zu ihm herum. 'Warum? Ich wäre früher nach Hause gekommen. Wie lange ist sie denn schon krank?'
'Sie haben den Krebs vor drei Monaten entdeckt, aber da hatte er schon gestreut.'
Ich saß da wie benommen. Drei Monate? Dauerte es nicht Jahre, bis eine Krebserkrankung zum Tode führte? 'Kann man denn nichts dagegen machen? Tumore entfernen? Die Krankheit irgendwie behandeln?'
'Das haben sie schon versucht, aber wie ich schon sagte: Es war bereits ziemlich schlimm. Eine Chemotherapie könnte ihr Leben maximal um zwei Monate verlängern, aber dafür gibt es keine Garantie. Angesichts der Kosten und der Fahrten zum Krankenhaus in Nashville ...' Er brach ab. 'Das wollte sie nicht.'
Ich starrte ihn an. 'Sie hat also beschlossen, direkt vor Weihnachten zu sterben?'
Seine Miene wurde hart. 'Deine Mutter hat sich den Krebs nicht ausgesucht, Mattie. Es ist doch nicht ihre Entscheidung, dass sie stirbt. Dein Vater und sie haben über die verschiedenen Optionen gesprochen und sich für die entschieden, die sie für die beste hielten.'
Ich wurde wütend. 'Genauso wie er mit Mark über Vietnam gesprochen hat. Und wie ist das ausgegangen?'
Ein Muskel an Nashs Kinn zuckte. 'Ich weiß, du und Kurt wart nicht einer Meinung, bevor du weggegangen bist ...'
'Ich bezweifle auch, dass wir jetzt einer Meinung sind.'
Er schüttelte genervt den Kopf. 'Mattie, seine Frau liegt im Sterben. Er hat seinen Sohn verloren. Du bist einfach abgehauen. Kurt ist nicht mehr der Mann, der er früher einmal war.'
Ich schnaubte. 'Ich war doch nur ein Jahr weg, Nash. So schnell kann sich niemand verändern.'
Er schaute mich lange durchdringend an. 'Da irrst du dich.' Ohne ein weiteres Wort stieg er aus und knallte die Tür zu. Er nahm meine Tasche und stapfte auf das Haus zu.
Mit einem Seufzen atmete ich aus.
Das fehlte mir gerade noch, dass Nash McCallum mir Ratschläge erteilte, wie ich mit meinem Vater umzugehen hatte.
Ein schweres Grauen drückte mich fast nieder, als ich aus dem Wagen stieg und das Haus anstarrte. Ich betrachtete die grünen Fensterläden, die Veranda, die einmal um das komplette Haus herumging, und Mamas Rosensträucher. Bittersüße Erinnerungen wurden wach. Wie viele Stunden hatten Mark und ich auf dieser Veranda verbracht, miteinander gespielt, Bücher gelesen oder unseren Träumen nachgehangen, während wir Seite an Seite auf der Holzschaukel gesessen hatten? Mama hatte immer gesagt, wir wären unzertrennlich, und Mark hatte gemeint, dass neun Monate gemeinsam im Bauch eben zusammenschweißen, und mich damit jedes Mal zum Lachen gebracht.
Diese Erinnerung war von einer erdrückenden, abgrundtiefen Leere begleitet, die mich quälte, seit das Telegramm mit der Nachricht vom Tod meines Bruders eingetroffen war. Nichts, was ich im letzten Jahr versucht hatte, konnte diese Leere füllen. Drogen und freie Liebe hatten sie eine Weile überdeckt. Yoga und buddhistische Meditationen hatten Frieden versprochen, aber die Leere war immer da gewesen. Dunkel. Gefährlich. Mit dem Drang, den Schmerz schnell zu beenden.
About the author
Michelle Shocklee ist als Autorin in
mehreren Genres unterwegs, brennt
jedoch vor allem für historische Romane.
Sie hat ihre Jugendliebe geheiratet und ist
Mutter von zwei erwachsenen Söhnen.
Aufgewachsen in New Mexico, lebt sie
heute in Tennessee, nicht weit von den
Schauplätzen ihrer Bücher.
www.michelleshocklee.com
Instagram: michelleshocklee
Facebook: Author Michelle Shocklee
Summary
Tullahoma, Tennessee
November 1969
Das erste Telegramm, das ich in meinem ganzen Leben gelesen hatte, hatte meine Welt erschüttert.
Das zweite kam ein Jahr später und zog mir den wenigen Boden unter den Füßen weg, den ich in diesen langen, bedrückenden Monaten mühsam wiedergefunden hatte. Wegen dieses Telegramms saß ich seit drei Tagen am Stück in diesem schmutzigen Greyhound-Bus. Mir graute davor, was mich am Ende meiner Fahrt erwarten würde.
Deine Mama liegt im Sterben. Sie braucht dich. Komm nach Hause.
Die kurze Nachricht war von Papa gekommen.
Es war keine Bitte.
Die kühle Abendluft wehte den Gestank der Dieselabgase durch das halb geöffnete, schmutzverschmierte Fenster ins Innere des Busses, als er in den Busbahnhof bog – mit zwei Stunden Verspätung aufgrund eines Unfalls auf der Landstraße vor Pulaski. Eine Handvoll Leute standen vor dem Gebäude und warteten auf Angehörige oder Freunde, aber nach einem schnellen Blick über die Gesichter war mir klar, dass Papa nicht unter ihnen war. Ich war enttäuscht und gleichzeitig besorgt und voller Angst, die mich seit dem Telegramm von ihm gar nicht mehr losließ. Kein einziges Wort, dass ich willkommen sei, kein Versprechen auf eine Versöhnung. In seiner Nachricht stand lediglich, dass meine Mutter nicht mehr lange leben würde und mich zu Hause brauchte.
Sie brauchte mich zu Hause.
Und er?
Mehrere Fahrgäste nahmen ihr Gepäck und begaben sich durch den Mittelgang zum Ausgang. Ich schloss die Augen und lehnte die Stirn an die kühle Fensterscheibe, da die Entscheidung, mit der ich rang, seit ich in Los Angeles in diesen Bus gestiegen war, immer noch nicht feststand.
Sollte ich aussteigen und mich allem und jedem stellen, was ich seit Marks Tod zu vergessen versuchte? Oder blieb ich im Bus sitzen, fuhr in die nächste Stadt weiter und schlug damit die Tür zu meinem Zuhause für immer zu?
Ich hatte geschworen, nie wieder nach Tullahoma zurückzukommen. Als ich zornig und voller Trauer an jenem eisigen Novembertag vor einem Jahr aus dem Haus gestürmt war, hatte ich keinen einzigen Blick zurückgeworfen. Warum auch? Mark war tot. Mein Zwillingsbruder war meine Welt gewesen, auch als er auf der anderen Seite der Erde in einem Krieg gekämpft hatte, den ich nicht befürworten konnte.
»Miss?«
Ich schlug die Augen auf.
Der grauhaarige Mann, der in Little Rock das Steuer übernommen hatte, stand vor mir und sah mich an. »Sie müssen hier aussteigen, nicht wahr?«
Ich blickte hinter ihn. Die anderen Fahrgäste, die Fahrkarten nach Tullahoma gekauft hatten, waren nicht mehr zu sehen. Der Moment der Entscheidung war gekommen.
Ein Blick durchs Fenster zeigte die verschlafene Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war. Diese Stadt hatte ich nie wiedersehen wollen. Aber ich konnte Mama doch nicht im Stich lassen. Nicht jetzt.
Nicht schon wieder.
»Ja, ich steige aus«, sagte ich. »Ich muss nur noch meine Sachen zusammenpacken.«
Der Fahrer nickte und kehrte zum Fahrersitz zurück.
Während ich meinen Pullover und ein halb gegessenes Sandwich in meine Reisetasche stopfte, schaute mich die ältere Frau auf der anderen Seite des Gangs finster an, verärgert, dass sie durch meine Trödelei noch später als ohnehin schon in Nashville ankommen würde. Seit sie in Albuquerque eingestiegen war, hatte sie mich nicht ein einziges Mal freundlich angesehen, sondern mich kritisch beäugt und mich von Kopf bis Fuß gemustert – meine weit ausgestellte, ausgefranste Jeans, meine bunt bedruckte, weite Bluse und mein langes Haar, das dringend gewaschen werden musste. »Hippie«, hatte sie abfällig gemurmelt, als sie auf ihrem Sitz Platz genommen hatte. Der Bus war nicht voll besetzt. Dadurch hatten die meisten Fahrgäste eine Sitzbank für sich allein, aber die Verachtung in ihren Augen, als sich unsere Blicke begegnet waren, hatte deutlich gezeigt, dass eine freundliche Unterhaltung während der langen Fahrt nicht infrage kam. Das war mir auch ganz recht gewesen.
Während ich mich durch den schmalen Gang nach vorn schob, folgten mir noch mehr finstere Blicke. Niemand bot an, mir mit meiner schweren Tasche zu helfen, nicht einmal der Busfahrer, der eine abgegriffene Straßenkarte mit Eselsohren studierte und mich völlig ignorierte. Noch bevor meine Füße den Asphalt richtig berührten, schloss er schon hinter mir die Tür, legte den Gang ein, gab Gas und hüllte mich in eine schwarze Wolke aus Abgasen.
Hustend und schimpfend überlegte ich, was ich jetzt tun sollte. Papa wusste, dass ich kam. Ich hatte ihm per R-Gespräch von Memphis aus mitgeteilt, wann der Bus ankommen würde. Es war das erste Mal nach zwölf Monaten gewesen, dass ich mit ihm gesprochen hatte. Nach einer langen Pause hatte er erklärt, dass er mich abholen würde, und dann aufgelegt.
Aber er war nicht da. Suchend sah ich mich auf dem Parkplatz um. Zwei Autos und ein alter Pick-up waren zu sehen, aber ich kannte keines dieser Fahrzeuge.
Mir blieb wohl keine andere Wahl, als ins Bahnhofsgebäude zu gehen und zu fragen, ob ich das Telefon benutzen dürfte, da ich mein letztes Geld für das Sandwich ausgegeben hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich besorgt, ob Papa es sich anders überlegt hatte. Vielleicht wollte er mich doch nicht hier haben. Oder Mamas Zustand hatte sich verschlechtert und …
»Mattie?«
Beim Klang dieser Männerstimme zuckte ich zusammen. Ich drehte mich um und stand einem großen Mann in Jeans gegenüber. Er lehnte an dem Pick-up auf dem Parkplatz, dessen offene Fahrertür verriet, dass er schon die ganze Zeit im Wagen gesessen hatte. Durch die Baseballkappe, die er sich so tief in die Stirn gezogen hatte, dass ein Schatten auf sein Gesicht fiel, konnte ich nicht erkennen, wer er war. Wahrscheinlich jemand, der mit mir zur Schule gegangen war, aber ich hatte absolut keine Lust, mit irgendjemandem über alte Zeiten zu plaudern.
»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln«, erwiderte ich und setzte meinen Weg zum Bahnhofsgebäude fort.
Er stieß ein humorloses Lachen aus. »Dieselbe eigensinnige Mattie Taylor wie immer.«
Ich drehte mich wieder zu ihm um und kniff die Augen zusammen, um sein Gesicht erkennen zu können. Mir fiel die Kinnlade herunter. »Nash?«
»Du hast wohl nicht damit gerechnet, mich hier zu sehen?«
Seine Frage wäre lachhaft gewesen, wenn nicht plötzlich ein stechender Schmerz mein Herz durchbohrt hätte, weil er am Leben war und unversehrt hier vor mir stand. Warum war Nash McCallum aus dem Krieg nach Hause gekommen und Mark nicht?
Er bewegte sich mit langsamen Schritten auf mich zu. Als wir uns in die Augen schauten, sah ich den Jungen, der Marks bester Freund gewesen war, solange ich zurückdenken konnte.
»Ich wusste gar nicht, dass du nach Hause gekommen bist.«
Ein Moment verging, bevor er die Achseln zuckte. »Na ja, sie können einen dort nur gebrauchen, wenn man noch alle seine Gliedmaßen hat.«
Seine leisen, harten Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken. Ich schaute ihn genauer an. Er hatte eindeutig beide Beine und beide …
Mir stockte der Atem.
Der linke Ärmel seines Jeanshemds steckte in seinem Hosenbund. Aus der Ferne war mir nicht aufgefallen, dass der Ärmel leer war.
»Ich … ich hatte keine Ahnung.«
»Nein, natürlich nicht.«
Unsere Blicke begegneten sich erneut. Verurteilten mich seine grünen Augen?
»Dein Vater wollte dich selbst abholen, aber als wir gehört haben, dass der Bus Verspätung hat, hat er mich darum gebeten.« Er nahm meine Reisetasche. »Du kannst es sicher nicht erwarten, nach Hause zu kommen.«
Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.
War das alles ein riesengroßer Fehler? Wollte ich wirklich allen unter die Augen treten, denen ich am Tiefpunkt unseres Lebens den Rücken gekehrt hatte? Nashs kühler Empfang war wahrscheinlich noch die herzlichste Begrüßung, die ich erwarten konnte, nachdem ich mich vor einem Jahr sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hatte.
Er warf meine Tasche auf die Ladefläche, dann öffnete er die Beifahrertür und wartete.
Ich sagte kein Wort und stieg ein. Nash schlug die Tür zu und ging um den Wagen herum auf die Fahrerseite. Der Motor erwachte dröhnend zum Leben und wir fuhren los. Die Pferdefarm meiner Familie befand sich fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt. Diese Strecke hatte ich unzählige Male zurückgelegt – auf dem Weg zur Schule, zu einer Freundin oder zu Marks Footballspielen. Heute erschien mir jeder Kilometer erdrückend und endlos.
Im schwächer werdenden Herbstlicht wirkte alles vor dem Fenster sonderbar fremd und gleichzeitig beruhigend vertraut. In diesen Häusern wohnten Menschen, die mich schon von klein auf kannten. Auf den Wiesen weideten Pferde oder Black-Angus-Rinder. Nach einem Jahr in Kaliforniens riesigen Großstädten weckte dieser friedliche, ländliche Anblick etwas tief in mir. Eine Sehnsucht, die ich ignoriert hatte, seit ich vor allem und jedem weggelaufen war.
Eine Sehnsucht, die in Tullahoma nie würde gestillt werden können.
Ich warf einen verstohlenen Blick auf Nash. Vor vier Jahren hatte ich ihn das letzte Mal gesehen. Da war er ein schlaksiger Teenager gewesen. Jetzt war er kräftig und muskulös und seine jungenhaften Gesichtszüge waren hart geworden. Er war zwar schon immer eher ein stiller Typ gewesen, aber sein eisiges Schweigen gab mir deutlich zu verstehen, dass er mir nichts zu sagen hatte. Mich interessierte trotzdem, warum er am Busbahnhof gewesen war.
»Warum hat Papa dich gebeten, mich abzuholen?«
Als ein Wagen auf der schmalen Landstraße an uns vorbeiraste, verkrampften sich seine Finger um das Steuer. Schlagartig fiel mir wieder ein, dass er ja nur eine Hand hatte, um das Auto zu lenken. Als er den Gang eingelegt hatte und losgefahren war, war mir das gar nicht aufgefallen.
»Ich arbeite für deine Eltern«, sagte er, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
»Du arbeitest für meine Familie? Aber du bist doch …«
Ich verstummte, aber es war zu spät.
»Mechaniker.« Er warf mir einen kurzen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. »Niemand ist wild darauf, einen einarmigen Mechaniker einzustellen. Man hat mir meine alte Stelle in der Kfz-Werkstatt nicht wiedergegeben.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Daher entschied ich mich erneut für Schweigen.
Nash nahm den Fuß vom Gas und bog von der Hauptstraße auf eine private Zufahrtsstraße. Es war eine holprige Fahrt über den Schotter und durch die Schlaglöcher und wir zogen eine Staubwolke hinter dem Pick-up her, während sich mein Magen nervös zusammenzog. Die ersten Sterne tauchten am Himmel auf und die sanften Hügel und die herbstgrünen Wiesen waren mit den Farben der Abenddämmerung getränkt. Erst als ich beim Anblick des getünchten Bauernhauses tief ausatmete, merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte.
Unser Haus.
Aber mein Zuhause war es nicht mehr.
Nash brachte den Pick-up neben dem Haus zum Stehen und stellte den Motor ab. Keiner von uns machte Anstalten auszusteigen. Mein Blick wanderte zum Fenster im ersten Stock über der Veranda. Mamas Fenster. Gedämpftes gelbes Licht drang durch die Vorhänge.
Liegt sie wirklich im Sterben?
Diese Frage vermied ich seit vier Tagen. Ich weigerte mich, darüber nachzudenken. Ich ging sogar so weit, meinen Vater zu verdächtigen, er hätte gelogen, nur um mich nach Hause zu locken. Aber als ich hier vor dem Haus zum Schlafzimmerfenster hinaufblickte, konnte ich nicht länger so tun, als wüsste ich nicht, was los war.
»Wie schlimm steht es um sie?« Ich schaute Nash nicht an, da ich die Antwort in seinen Augen nicht sehen wollte.
Er antwortete nicht sofort. Schließlich kam ein schweres Seufzen über seine Lippen, dann sagte er: »Der Arzt glaubt nicht, dass sie Weihnachten noch bei uns ist.«
Bei dieser ernüchternden Wahrheit atmete ich scharf ein. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um das Weinen, das in meiner Kehle aufstieg, zu unterdrücken.
Bis Weihnachten waren es nur noch sieben Wochen.
»Aber sie ist eine Kämpferin«, sprach Nash weiter. »Sie wollte nicht, dass dein Vater dir schreibt. Bis, nun ja, bis kurz vor dem Ende.«
Ich drehte mich zu ihm herum. »Warum? Ich wäre früher nach Hause gekommen. Wie lange ist sie denn schon krank?«
»Sie haben den Krebs vor drei Monaten entdeckt, aber da hatte er schon gestreut.«
Ich saß da wie benommen. Drei Monate? Dauerte es nicht Jahre, bis eine Krebserkrankung zum Tode führte? »Kann man denn nichts dagegen machen? Tumore entfernen? Die Krankheit irgendwie behandeln?«
»Das haben sie schon versucht, aber wie ich schon sagte: Es war bereits ziemlich schlimm. Eine Chemotherapie könnte ihr Leben maximal um zwei Monate verlängern, aber dafür gibt es keine Garantie. Angesichts der Kosten und der Fahrten zum Krankenhaus in Nashville …« Er brach ab. »Das wollte sie nicht.«
Ich starrte ihn an. »Sie hat also beschlossen, direkt vor Weihnachten zu sterben?«
Seine Miene wurde hart. »Deine Mutter hat sich den Krebs nicht ausgesucht, Mattie. Es ist doch nicht ihre Entscheidung, dass sie stirbt. Dein Vater und sie haben über die verschiedenen Optionen gesprochen und sich für die entschieden, die sie für die beste hielten.«
Ich wurde wütend. »Genauso wie er mit Mark über Vietnam gesprochen hat. Und wie ist das ausgegangen?«
Ein Muskel an Nashs Kinn zuckte. »Ich weiß, du und Kurt wart nicht einer Meinung, bevor du weggegangen bist …«
»Ich bezweifle auch, dass wir jetzt einer Meinung sind.«
Er schüttelte genervt den Kopf. »Mattie, seine Frau liegt im Sterben. Er hat seinen Sohn verloren. Du bist einfach abgehauen. Kurt ist nicht mehr der Mann, der er früher einmal war.«
Ich schnaubte. »Ich war doch nur ein Jahr weg, Nash. So schnell kann sich niemand verändern.«
Er schaute mich lange durchdringend an. »Da irrst du dich.« Ohne ein weiteres Wort stieg er aus und knallte die Tür zu. Er nahm meine Tasche und stapfte auf das Haus zu.
Mit einem Seufzen atmete ich aus.
Das fehlte mir gerade noch, dass Nash McCallum mir Ratschläge erteilte, wie ich mit meinem Vater umzugehen hatte.
Ein schweres Grauen drückte mich fast nieder, als ich aus dem Wagen stieg und das Haus anstarrte. Ich betrachtete die grünen Fensterläden, die Veranda, die einmal um das komplette Haus herumging, und Mamas Rosensträucher. Bittersüße Erinnerungen wurden wach. Wie viele Stunden hatten Mark und ich auf dieser Veranda verbracht, miteinander gespielt, Bücher gelesen oder unseren Träumen nachgehangen, während wir Seite an Seite auf der Holzschaukel gesessen hatten? Mama hatte immer gesagt, wir wären unzertrennlich, und Mark hatte gemeint, dass neun Monate gemeinsam im Bauch eben zusammenschweißen, und mich damit jedes Mal zum Lachen gebracht.
Diese Erinnerung war von einer erdrückenden, abgrundtiefen Leere begleitet, die mich quälte, seit das Telegramm mit der Nachricht vom Tod meines Bruders eingetroffen war. Nichts, was ich im letzten Jahr versucht hatte, konnte diese Leere füllen. Drogen und freie Liebe hatten sie eine Weile überdeckt. Yoga und buddhistische Meditationen hatten Frieden versprochen, aber die Leere war immer da gewesen. Dunkel. Gefährlich. Mit dem Drang, den Schmerz schnell zu beenden.
Product details
Authors | Michelle Shocklee |
Assisted by | Silvia Lutz (Editor), Silvia Lutz (Translation) |
Publisher | Francke |
Original title | All we Thought we Knew |
Languages | German |
Product format | Paperback / Softback |
Release | 01.06.2025 |
EAN | 9783963624902 |
ISBN | 978-3-96362-490-2 |
No. of pages | 384 |
Subjects |
Fiction
> Mixed anthologies
Zweiter Weltkrieg, Versöhnung, Vietnam, Pearl Harbor, entspannen, Geschenk für Frauen, Tennessee, Südstaaten, Mutter-Tochter-Konflikt, Starke Frauenfiguren, Familienbibel, historische Liebesgeschichte, Verlust und Trauer, deutsch-amerikanische Geschichte, Geheimnis der Vergangenheit, Pferdefarm, vergangenheit und gegenwart, Narrative theme: war and conflict, emotionale Lebensreise, Zwillingsverlust, Hoffnung und Neuanfang, Lebenslügen und Wahrheit, Internierungslager USA, Heilung und Vergebung, Glaube in schweren Zeiten |
Customer reviews
No reviews have been written for this item yet. Write the first review and be helpful to other users when they decide on a purchase.
Write a review
Thumbs up or thumbs down? Write your own review.