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Das ist ja nun ein ganz anderes Buch als SPEEDY, karger, weniger opulent, und kein historischer Roman.
Ein Gegenwartsroman, wenn auch ein Bisschen weiter aufgefasst: die im Buch geschilderte Gegen-wart ist die der Zeit, bevor der Osten im wiedervereinigten Deutschland noch einmal in Bewegung kam, bevor die Menschen, die sich zu wehren begannen, in die Fänge der AfD gerieten. Man denkt beim Lesen: gleich kommt da jemand von der AfD um die Ecke.
Der Roman ist geschrieben, bevor es diese Partei gab - aber es gab diese Leute schon vorher, die dann von der AfD eingesammelt werden konnten. Um die Hauptfigur im Bankrott, der sich in den Medien dagegen wehrt, was ihm widerfahren ist, sammeln sie sich, und er überlegt ja dann auch, was ließe sich daraus machen, eine Bewegung, eine Armee vielleicht, a la Michael Kohlhaas, oder, er ist ja Geschäftsmann, könnte es auch eine Firma sein - er kommt nur zu keinem Schluss. Es fehlt noch ein Element: das der Fremdenfeindlichkeit.
Die im Osten ja erst einmal eine gegen die Westler ist, die den Osten übernehmen. Politisch, in der Verwaltung, der Justiz, im Geschäftsleben, alles Menschen, die den Rechtsstaat gewohnt sind, ihn für sich zu nutzen verstehen. Bärbel Bohley hat gesagt: Wir wollten Gerechtigkeit, bekommen haben wir den Rechtsstaat. Und das ist sicher auch gut so, denn darüber, was Gerechtigkeit ist, hätten wir uns doch nie einigen können. Aber der Rechtsstaat hat ein Problem, wenn zu viele seiner Entscheidungen als ungerecht empfunden werden. Jede kleine Gemeinheit hat doch ihre Folgen, jede Benachteiligung, die ein Mensch erleidet. In dem Moment, wo dieser Mensch dann gegen sie revoltiert. Es ist erst gar nicht klar, wohin es wird führen können, und die Vielen, die sich ungerecht behandelt gefühlt haben, müssen erst zusammenfinden. Und es kann die ganze falsche Losung sein, die sie vereint. Als die Fremdlinge im eigenen Land dann mit den Fremden kamen, die sie flächendeckend und also auch im Osten, der sich mit den Fremden nicht so auskannte, verteilen wollten, brach die Revolte los, in Form der AfD, und ich kann nur von Glück sagen, dass ich meinen Roman schon zu einem Zeitpunkt geschrieben habe, als die Erniedrigten und Beleidigten noch nicht wussten, wohin mit ihrer Wut.
Ein Buch der linken Verzweiflung
Politisch bin ich links, als Autor bin ich alles, was angesagt ist, aber dennoch würde ich meinen, dass auch der Bankrott irgendwie links angesiedelt ist, bei den Verlierern nämlich. Die Gewinner beschäftigen mich, aber in dem Moment, wo aus einem Verlierer ein Gewinner wird, hat er meine Solidarität dann nicht mehr. Sie waren zehn Jahre lang Verfassungsrichter im Land Brandenburg.
Den Geschichten, die ich im Bankrott erzähle, bin ich als Verfassungsrichter begegnet, und es waren dies die Fälle, bei denen ein Verfassungsgericht nichts machen kann, die Fälle, an denen man nur verzweifeln kann. Am Anfang steht eine Ungerechtigkeit, oft Behördenwillkür, die Leute wehren sich gerichtlich dagegen, aber geraten sie in die Mühlen des Rechtsstaates, dann verschiebt es sich immer mehr, es geht sehr bald nicht mehr um das, was sie eigentlich antreibt, viele werden irre daran und entwickeln Verschwörungstheorien. Und dann ist ihnen natürlich noch weniger zu helfen. Beim Lesen hat man den Eindruck, als würde man unmerklich von einem Stoff in einen ganz anderen geraten.
Genau das hat mich gereizt, das habe ich zu gestalten versucht. Mit etwas ganz klar Umrissenen zu beginnen, und dann mit etwas anderem, ebenso klar umrissenen zu enden. So, als befände man sich von Anfang an auf einer schiefen Ebene, es folgt ein Bankrott auf den anderen. Es beginnt mit dem einer Firma, dem eines Unternehmers, es geht weiter zum Bankrott der Institutionen, der Politik, des Rechtswesens, der Medien, dem Kulturbetrieb, der Moral, und endet in dem der Literatur - nichts bleibt unberührt und ausgespart. Das Thema verschiebt sich, und mit einem Mal sind wir bei dem des Voyeurismus, beim dazu gehörigen Exhibitionismus, und das nicht nur sexuell und erotisch, sondern ganz allgemein und politisch, bei dem Exhibitionismus der Reichen und Erfolgreichen, dem der Minderbemittelten, denen nur die Losung bleibt: Zeige deine Wunde.
Der Bankrott erzählt die Geschichte einer Freundschaft.
Es ist das vielleicht sogar ein Buch aus zwei Büchern, die miteinander verzahnt sind. Es sind zwei Geschichten, die zusammenkommen, es ist die Geschichten zweier Freunde, die sich gegenseitig verachten, kaum verstehen. Die Geschichte des einen: ein Mann, der alles verliert, es am Ende aber wieder gewinnt. Die Geschichte des anderen: ein Mann, der glaubt, nach seinem bisherigen Scheitern stünde ihm ein Erfolg bevor, und der am Ende doch wieder nur scheitert.
Der eine der beiden Freunde: ein Unternehmer, ein Macher und Macho, ein Mann mit einem großen Ego, einer großen Klappe, aber er kann erzählen, er kann auch zuhören, er liebt Geschichten. Ein hässlicher Mann, unansehnlich, monströs, ein Ekel, aber nicht einer, der sich Illusionen über seine Wirkung macht - dadurch dann auch wieder sympathisch. Ich habe ein paar solcher Männer kennengelernt, und ich dachte immer wieder mal: sie sind dir zuwider, und also musst du mal über so einen schreiben, um ihn zu verstehen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, um gute Argumente für sein Verhalten zu finden.
Der andere, der Ich-Erzähler im Roman: ein Schriftsteller, ein Langweiler also, ein Mann, der gut aussieht, der aber daraus nichts bei den Frauen machen kann, gehemmt, erfolglos, ein Schriftsteller, der beschließt, sich von der Fiktion ab-, sich der Realität zuzuwenden, und dann ist da sein Freund, der Bankrott dieses Freundes, und er denkt: vielleicht ist das eine Geschichte, über die du einen Roman schreiben kannst. Er war immer ein Voyeur des Lebens anderer, nun wird er zum Parasiten, zu einem Wicht, für den das Leben eines anderen, das seines Freundes, zum Stoff, zum Material wird. Dieser Ich-Erzähler, das bin nicht ich selber, aber das Problem des Realismus in der Literatur ist auch meines: was kann man von dem erzählen, bei dem man nicht dabei gewesen ist, das, was man nicht selbst erlebt hat?
Es ist für mich eine Sache der schriftstellerischen Moral, diese Grundlage des realistischen Schreibens, auf Vermutungen angewiesen zu sein, mit zum Thema zu machen. Man sieht im Bankrott einem Schriftsteller beim Schreiben eines Romans zu, der eigentlich ungeeignet ist, ihn zu schreiben. Doch niemand sonst würde ihn schreiben, hätte Veranlassung, es zu versuchen. Die Welt aber will nicht von einem inkompetenten Schriftsteller beschrieben werden, und kann sie es, dann wehrt sie sich dagegen. Die Reichen und Erfolgreichen tun es, sie verfügen über die Mittel, es zu tun. Und sie haben einen guten Grund dafür: sie wissen, dass ihre Welt nicht von einem armen, erfolg-losen Schriftsteller verstanden und dargestellt werden kann. Und so bleibt ihm am Ende nichts anderes als in den Journalismus auszuweichen, in den plumpen Realismus der bloßen Fakten.
Und was ist mit dem Schicksal?
Dieser Bauunternehmer bekommt einen Bescheid des Finanzamtes, das von ihm eine Steuernachzahlung in der Höhe von einer Millionen verlangt. Es ist das, was dazu führt, dass dieser Mann alles verliert: seine Firma, sein Haus und dann auch seine Frau. Ein Jahr später stellt sich bei einer internen Prüfung im Finanzamt heraus: er hatte keine Steuerschulden, es hätte ihm diese Millionen zurückgezahlt werden müssen. Ein Computerfehler: aus Plus wurde Minus. Der Computer als Schicksalsmacht. Aber diese Macht schlägt mit Hilfe der Presse zu und das zweimal: Am Anfang, als die Zeitung aus der angeblichen Steuerschuld dieses Unternehmers eine Meldung macht, und es ist diese Meldung, die erst den ganzen Prozess in Gang setzt, bei dem er alles verliert - eine Durchstecherei, und die Presse greift es dankbar auf. Am Ende rettet ihn die Presse: Das Finanzamt hatte den Computerfehler deckeln wollen, aber ein ordentlicher deutscher Beamter wird zum Whistleblower.
Der Roman jedoch, als literarische Gattung genommen, ist dazu da, von Abenteuern zu erzählen, nicht von einem Schicksal. Das war Sache der antiken Tragödie, und die meisten Menschen von heute, lehnen den Gedanken ab, es könne so etwas wie Schicksal überhaupt geben. Im Bankrott versuche ich also das Unmögliche: in einem Roman von einem Schicksal zu erzählen - vielleicht ist es gelungen.
Ist der Bankrott ein erotischer Roman?
Durch und durch, und auch da, wo er von ganz anderen Dingen handelt, von Geschäften, von Politik, dem Baugewerbe, Verlagsangelegenheiten. Das Problem dabei ist nur, dass sich der fiktive Autor des Romans nicht sicher ist, ob er sie nicht nur auch in diese Geschichte hineinträgt, die Erotik, die vielleicht doch nur seine ist, einfach, weil er doch von nichts anderem etwas versteht, weder von den Geschäften, von der Politik, dem Baugewerbe, Verlagsangelegenheiten. Kann das wirklich sein, dass sich die Welt in Exhibitionisten und Voyeuristen aufteilt?
Und wenn man Sie direkt fragt, Herr Havemann...
Ich stimme mir als dem fiktiven Autor des Bankrott zu: der Roman unserer Zeit muss erotisch sein.
1971 floh Florian Havemann mit seiner Freundin in einem leeren Tanklastwagen in den Westen.[6] Havemanns Flucht gab dem Sänger und DDR-Dissidenten Wolf Biermann den Anstoß für das Lied Enfant perdu; dies trug er neben anderen bei seinem bekanntesten Konzert am Vorabend der Ausbürgerung in Köln am 13. November 1976 vor. In dem Lied kritisiert Biermann Havemann und dessen Flucht scharf: „Wer abhaut aus dem Osten, / der ist auf unsere Kosten / von sich selber abgehaun“, „dort macht er den linken Clown“ sowie mit einem doppeldeutigen „er ist hinüber“ und „Abgang ist überall“. Biermann, nun selbst im Westen, sandte Havemann böse Wünsche: „Lass, lass in die Binsen gehen, / damit wir im Osten sehen, / dass der, der abfällt, fällt.“[7]
Havemann betätigt sich als Autor von Bühnenstücken, darunter Speer (über Albert Speer) und Rosa (über Rosa Luxemburg), die jedoch bisher nicht zur Aufführung kamen,[12] und hat außerdem als Komponist mehrere Theatermusikstücke vorgelegt sowie einen Klavierzyklus geschrieben und aufgeführt. Von Oktober 2005 bis Oktober 2011 war er zusammen mit Daniel Küchenmeister und Helge Meves Herausgeber der im Internet erscheinenden Zeitschrift für unfertige Gedanken, für die unter anderen auch der Berliner Autor und Journalist Thomas Wieczorek schrieb.
2021 war Havemann Mitbegründer des Verlags Freunde & Friends,[13] bei dem er die Verantwortlichkeit für den Inhalt nach § 55 Abs. 2 RStV übernahm.[14] Seit 2021 schreibt Florian Havemann für eine Essay-Reihe in der Berliner Zeitung am Wochenende: Der unfertige Gedanke.[15]
Havemann lebt in Berlin. Sein Atelier und Galerie befindet sich seit 2019 in der Friedrichstraße.[16] Aus seinem Atelier heraus hat er nach eigenen Angaben bis Januar 2022 noch nie ein Bild verkauft.[17] Havemann heiratete 1988 Agnès Vigneron und hat mit ihr drei Kinder: Ingrid, Caroline und Gabriel wurden 1993, 1998 und 1999 geboren. Er ist mit Hanna Lakomy liiert.[18]
Vollständig geschwärzte Seite aus dem Roman Havemann (2. Auflage, 2008) Unter dem Titel Havemann verfasste Florian Havemann einen 1100 Seiten starken, von ihm als „Tatsachenroman“ bezeichneten Roman über das Leben seines Großvaters Hans Havemann, seines Vaters Robert Havemann und sein eigenes. Das Werk machte bereits vor seiner Veröffentlichung im November 2007 Schlagzeilen, insbesondere, weil Havemann darin Wolf Biermann einen bis kurz vor dessen Ausbürgerung bestehenden Sexualkontakt zur damaligen Volksbildungsministerin Margot Honecker, der Ehefrau des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, unterstellt.[19] Das Buch wurde von mehreren Kritiken als „Vatermord“ bezeichnet und überwiegend negativ aufgenommen.[20]
Nachdem ein Protagonist des Romans sich verunglimpft gesehen hatte, gab der Suhrkamp Verlag eine Unterlassungserklärung ab und rief das Buch am 21. Dezember 2007 aus dem Buchhandel zurück.[21] Da mehrere Personen, darunter Angela Merkel, Joachim Sauer, Eva-Maria Hagen und Havemanns Schwester Sybille, für Streichungen gestritten hatten,[22] erschien im September 2008 eine neue, gekürzte und geschwärzte Auflage. Zuvor war das Buch mit Einschwärzungen als Download erhältlich gewesen.[23][24] Einer Klägerin sprach das Landgericht Berlin Schmerzensgeld für ihre Erwähnung mit Klarnamen und Denunziation als Femme fatale zu.[25]
Der 2006 von Havemann bei Suhrkamp zuerst eingebrachte, dann aber wegen Havemann zurückgestellte Roman Speedy ging infolge des Skandals zunächst gar nicht in Druck. Erst nachdem sich Clemens J. Setz 2019 in einem Artikel in der FAZ für den Roman eingesetzt hatte, wurde er vom Europa Verlag veröffentlicht.[26]
Auszüge aus den Tafeln des Schicksals – ein Porträt von Velimir Chlebnikov. März bei Zweitausendeins, Frankfurt 1977.
Havemann. Autobiografie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-518-41917-5 (1092 S.)., Besprechung:[27]
Florian Havemann – Rosa, Speer – Bilder. Anlässlich der Ausstellung „Florian Havemann – Rosa, Speer – Bilder“, Schloss Neuhardenberg, 30. März bis 29. Juni 2008. Stiftung Schloss Neuhardenberg/Neubrandenburg 2008, ISBN 978-3-9812196-0-9.
Christoph Dieckmann: Das uralt kluge Kind. Florian Havemann ermordet seinen toten Vater, auf dass er lebe. In: Die Zeit. 12. Dezember 2007 (zeit.de – über das Buch „Havemann“).
↑ abVita In: Florian Havemann: Persönliche Homepage. PDS Sachsen, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 16. Oktober 2002; abgerufen am 30. August 2020.
↑Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.
↑Robert Ide: Der Ost-Moderne. Richter. Künstler. Sohn des prominentesten DDR-Oppositionellen. Florian Havemann, 68, ist eine der schillerndsten Geheimnisgestalten im vor lauter zerwühlten Gefühlen zerklüfteten Osten. Treffen mit einem, der lebt, wie sein neuer Roman sich liest. In: Der Tagesspiegel, 28. August 2020, S. 3.
↑Wolf Biermann: Für meine Genossen : Hetzlieder, Balladen, Gedichte. Mit Noten zu allen Liedern (= Quarthefte. Nr.62). Wagenbach, Berlin 1972, ISBN 978-3-8031-0062-7, S.83–85 („Snippet“ in der Google-Buchsuche).
↑Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.
↑Robert Ide: Der Ost-Moderne. Richter. Künstler. Sohn des prominentesten DDR-Oppositionellen. Florian Havemann, 68, ist eine der schillerndsten Geheimnisgestalten im vor lauter zerwühlten Gefühlen zerklüfteten Osten. Treffen mit einem, der lebt, wie sein neuer Roman sich liest. In: Der Tagesspiegel, 28. August 2020, S. 3.
↑„Als ich merkte, dass es nichts wird mit dem Theater, war das der größte Einbruch meines Lebens.“ (Zitiert nach: Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.)
↑Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.
↑Robert Ide: Unterwegs mit dem abtrünnigen Sohn des bekanntesten DDR-Oppositionellen. In: Der Tagesspiegel Online. 12. Januar 2022, ISSN1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 29. Juni 2022]).
↑Der Name des Vaters (Memento vom 18. November 2007 im Internet Archive), Der Tagesspiegel, 17. November 2007. Das Fazit der Buchbesprechung lautet: „Florian H. erzählt von drei Havemännern, vom Großvater, Vater und Sohn. Der Sohn ist er selber. Drei vielfältig begabte Glücksspieler, Pechhaber, Überlebenskünstler. Das erscheint für sich genommen noch nicht ungewöhnlich. Aber das Buch ist ein Monster. Mal langatmig, mal atemberaubend, voller Enthüllungen, Entblößungen, voller Liebe, Hass und etwas, das Hassliebende, Besessene, Verhexte sonst gar nicht haben. Nämlich Humor, auch Selbstironie, neben der Eitelkeit auch Demut, neben aller Zynik Zartheit.“
↑Robert Ide: Der Ost-Moderne. Richter. Künstler. Sohn des prominentesten DDR-Oppositionellen. Florian Havemann, 68, ist eine der schillerndsten Geheimnisgestalten im vor lauter zerwühlten Gefühlen zerklüfteten Osten. Treffen mit einem, der lebt, wie sein neuer Roman sich liest. In: Der Tagesspiegel, 28. August 2020, S. 3.
↑Havemann. 21. März 2008, archiviert vom Original am 21. März 2008; abgerufen am 8. September 2022.
↑Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.
Das ist ja nun ein ganz anderes Buch als SPEEDY, karger, weniger opulent, und kein historischer Roman.
Ein Gegenwartsroman, wenn auch ein Bisschen weiter aufgefasst: die im Buch geschilderte Gegen-wart ist die der Zeit, bevor der Osten im wiedervereinigten Deutschland noch einmal in Bewegung kam, bevor die Menschen, die sich zu wehren begannen, in die Fänge der AfD gerieten. Man denkt beim Lesen: gleich kommt da jemand von der AfD um die Ecke.
Der Roman ist geschrieben, bevor es diese Partei gab – aber es gab diese Leute schon vorher, die dann von der AfD eingesammelt werden konnten. Um die Hauptfigur im Bankrott, der sich in den Medien dagegen wehrt, was ihm widerfahren ist, sammeln sie sich, und er überlegt ja dann auch, was ließe sich daraus machen, eine Bewegung, eine Armee vielleicht, a la Michael Kohlhaas, oder, er ist ja Geschäftsmann, könnte es auch eine Firma sein – er kommt nur zu keinem Schluss. Es fehlt noch ein Element: das der Fremdenfeindlichkeit.
Die im Osten ja erst einmal eine gegen die Westler ist, die den Osten übernehmen. Politisch, in der Verwaltung, der Justiz, im Geschäftsleben, alles Menschen, die den Rechtsstaat gewohnt sind, ihn für sich zu nutzen verstehen. Bärbel Bohley hat gesagt: Wir wollten Gerechtigkeit, bekommen haben wir den Rechtsstaat. Und das ist sicher auch gut so, denn darüber, was Gerechtigkeit ist, hätten wir uns doch nie einigen können. Aber der Rechtsstaat hat ein Problem, wenn zu viele seiner Entscheidungen als ungerecht empfunden werden. Jede kleine Gemeinheit hat doch ihre Folgen, jede Benachteiligung, die ein Mensch erleidet. In dem Moment, wo dieser Mensch dann gegen sie revoltiert. Es ist erst gar nicht klar, wohin es wird führen können, und die Vielen, die sich ungerecht behandelt gefühlt haben, müssen erst zusammenfinden. Und es kann die ganze falsche Losung sein, die sie vereint. Als die Fremdlinge im eigenen Land dann mit den Fremden kamen, die sie flächendeckend und also auch im Osten, der sich mit den Fremden nicht so auskannte, verteilen wollten, brach die Revolte los, in Form der AfD, und ich kann nur von Glück sagen, dass ich meinen Roman schon zu einem Zeitpunkt geschrieben habe, als die Erniedrigten und Beleidigten noch nicht wussten, wohin mit ihrer Wut.
Ein Buch der linken Verzweiflung
Politisch bin ich links, als Autor bin ich alles, was angesagt ist, aber dennoch würde ich meinen, dass auch der Bankrott irgendwie links angesiedelt ist, bei den Verlierern nämlich. Die Gewinner beschäftigen mich, aber in dem Moment, wo aus einem Verlierer ein Gewinner wird, hat er meine Solidarität dann nicht mehr. Sie waren zehn Jahre lang Verfassungsrichter im Land Brandenburg.
Den Geschichten, die ich im Bankrott erzähle, bin ich als Verfassungsrichter begegnet, und es waren dies die Fälle, bei denen ein Verfassungsgericht nichts machen kann, die Fälle, an denen man nur verzweifeln kann. Am Anfang steht eine Ungerechtigkeit, oft Behördenwillkür, die Leute wehren sich gerichtlich dagegen, aber geraten sie in die Mühlen des Rechtsstaates, dann verschiebt es sich immer mehr, es geht sehr bald nicht mehr um das, was sie eigentlich antreibt, viele werden irre daran und entwickeln Verschwörungstheorien. Und dann ist ihnen natürlich noch weniger zu helfen. Beim Lesen hat man den Eindruck, als würde man unmerklich von einem Stoff in einen ganz anderen geraten.
Genau das hat mich gereizt, das habe ich zu gestalten versucht. Mit etwas ganz klar Umrissenen zu beginnen, und dann mit etwas anderem, ebenso klar umrissenen zu enden. So, als befände man sich von Anfang an auf einer schiefen Ebene, es folgt ein Bankrott auf den anderen. Es beginnt mit dem einer Firma, dem eines Unternehmers, es geht weiter zum Bankrott der Institutionen, der Politik, des Rechtswesens, der Medien, dem Kulturbetrieb, der Moral, und endet in dem der Literatur – nichts bleibt unberührt und ausgespart. Das Thema verschiebt sich, und mit einem Mal sind wir bei dem des Voyeurismus, beim dazu gehörigen Exhibitionismus, und das nicht nur sexuell und erotisch, sondern ganz allgemein und politisch, bei dem Exhibitionismus der Reichen und Erfolgreichen, dem der Minderbemittelten, denen nur die Losung bleibt: Zeige deine Wunde.
Der Bankrott erzählt die Geschichte einer Freundschaft.
Es ist das vielleicht sogar ein Buch aus zwei Büchern, die miteinander verzahnt sind. Es sind zwei Geschichten, die zusammenkommen, es ist die Geschichten zweier Freunde, die sich gegenseitig verachten, kaum verstehen. Die Geschichte des einen: ein Mann, der alles verliert, es am Ende aber wieder gewinnt. Die Geschichte des anderen: ein Mann, der glaubt, nach seinem bisherigen Scheitern stünde ihm ein Erfolg bevor, und der am Ende doch wieder nur scheitert.
Der eine der beiden Freunde: ein Unternehmer, ein Macher und Macho, ein Mann mit einem großen Ego, einer großen Klappe, aber er kann erzählen, er kann auch zuhören, er liebt Geschichten. Ein hässlicher Mann, unansehnlich, monströs, ein Ekel, aber nicht einer, der sich Illusionen über seine Wirkung macht – dadurch dann auch wieder sympathisch. Ich habe ein paar solcher Männer kennengelernt, und ich dachte immer wieder mal: sie sind dir zuwider, und also musst du mal über so einen schreiben, um ihn zu verstehen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, um gute Argumente für sein Verhalten zu finden.
Der andere, der Ich-Erzähler im Roman: ein Schriftsteller, ein Langweiler also, ein Mann, der gut aussieht, der aber daraus nichts bei den Frauen machen kann, gehemmt, erfolglos, ein Schriftsteller, der beschließt, sich von der Fiktion ab-, sich der Realität zuzuwenden, und dann ist da sein Freund, der Bankrott dieses Freundes, und er denkt: vielleicht ist das eine Geschichte, über die du einen Roman schreiben kannst. Er war immer ein Voyeur des Lebens anderer, nun wird er zum Parasiten, zu einem Wicht, für den das Leben eines anderen, das seines Freundes, zum Stoff, zum Material wird. Dieser Ich-Erzähler, das bin nicht ich selber, aber das Problem des Realismus in der Literatur ist auch meines: was kann man von dem erzählen, bei dem man nicht dabei gewesen ist, das, was man nicht selbst erlebt hat?
Es ist für mich eine Sache der schriftstellerischen Moral, diese Grundlage des realistischen Schreibens, auf Vermutungen angewiesen zu sein, mit zum Thema zu machen. Man sieht im Bankrott einem Schriftsteller beim Schreiben eines Romans zu, der eigentlich ungeeignet ist, ihn zu schreiben. Doch niemand sonst würde ihn schreiben, hätte Veranlassung, es zu versuchen. Die Welt aber will nicht von einem inkompetenten Schriftsteller beschrieben werden, und kann sie es, dann wehrt sie sich dagegen. Die Reichen und Erfolgreichen tun es, sie verfügen über die Mittel, es zu tun. Und sie haben einen guten Grund dafür: sie wissen, dass ihre Welt nicht von einem armen, erfolg-losen Schriftsteller verstanden und dargestellt werden kann. Und so bleibt ihm am Ende nichts anderes als in den Journalismus auszuweichen, in den plumpen Realismus der bloßen Fakten.
Und was ist mit dem Schicksal?
Dieser Bauunternehmer bekommt einen Bescheid des Finanzamtes, das von ihm eine Steuernachzahlung in der Höhe von einer Millionen verlangt. Es ist das, was dazu führt, dass dieser Mann alles verliert: seine Firma, sein Haus und dann auch seine Frau. Ein Jahr später stellt sich bei einer internen Prüfung im Finanzamt heraus: er hatte keine Steuerschulden, es hätte ihm diese Millionen zurückgezahlt werden müssen. Ein Computerfehler: aus Plus wurde Minus. Der Computer als Schicksalsmacht. Aber diese Macht schlägt mit Hilfe der Presse zu und das zweimal: Am Anfang, als die Zeitung aus der angeblichen Steuerschuld dieses Unternehmers eine Meldung macht, und es ist diese Meldung, die erst den ganzen Prozess in Gang setzt, bei dem er alles verliert – eine Durchstecherei, und die Presse greift es dankbar auf. Am Ende rettet ihn die Presse: Das Finanzamt hatte den Computerfehler deckeln wollen, aber ein ordentlicher deutscher Beamter wird zum Whistleblower.
Der Roman jedoch, als literarische Gattung genommen, ist dazu da, von Abenteuern zu erzählen, nicht von einem Schicksal. Das war Sache der antiken Tragödie, und die meisten Menschen von heute, lehnen den Gedanken ab, es könne so etwas wie Schicksal überhaupt geben. Im Bankrott versuche ich also das Unmögliche: in einem Roman von einem Schicksal zu erzählen – vielleicht ist es gelungen.
Ist der Bankrott ein erotischer Roman?
Durch und durch, und auch da, wo er von ganz anderen Dingen handelt, von Geschäften, von Politik, dem Baugewerbe, Verlagsangelegenheiten. Das Problem dabei ist nur, dass sich der fiktive Autor des Romans nicht sicher ist, ob er sie nicht nur auch in diese Geschichte hineinträgt, die Erotik, die vielleicht doch nur seine ist, einfach, weil er doch von nichts anderem etwas versteht, weder von den Geschäften, von der Politik, dem Baugewerbe, Verlagsangelegenheiten. Kann das wirklich sein, dass sich die Welt in Exhibitionisten und Voyeuristen aufteilt?
Und wenn man Sie direkt fragt, Herr Havemann…
Ich stimme mir als dem fiktiven Autor des Bankrott zu: der Roman unserer Zeit muss erotisch sein.