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Wenn man sich zum Ausgang eines Jahrhunderts Gedanken macht, was denn die beherrschende Qualität und Signatur dieses Jahrhunderts gewesen sei, dann drängen sich beim zwanzigsten Begriffe auf wie Dekadenz und Barbarei einerseits, Manipulation und Simulation andererseits, dazu verwandte kulturelle und plitische Kategorien wie Inhumanität, Korruption, Reression, Perversion auch. Gerade dieser vorerst recht ungeordnete Befund aber lässt einen Begriff in den Vordergrund treten, der möglicherweise alle diese synchronen und doch disparaten Bilder unseres Säkulums genauer und substantieller als andere zusammenfasst: den der Obszönität.
Eigentlich heißt Obszönität einfach Schamlosigkeit, so in der Antike, im christlichen Mittelalter und vielfach auch noch heute. Für die meisten war das Obszöne so gut wie exklusiv aufs Sexuelle bezogen. Aber seit spätestens drei Jahrzehnten verschiebt sich die Wortbedeutung, erfolgt die lang überfällige Korrektur des Begriffs im Sinne seiner Erweiterung: Obszön, schmlos, erscheinen in diesem revidierten Verstand größte Teile des heutigen öffentlichen Lebens, erscheint im Rückblick gleichsam das ganze 20. Jahrhundert.
Derart verstehen auch Eckard Henscheid und Gerhard Henschel ihre Jahrhundertgeschichtsschreibung, im ganzen wie in den zahlreichen Einzelkapiteln: von der Affaire Dreyfus und der nationalen Begeisterung wegen des endlich ausgebrochenen Ersten Weltkriegs über den allseits obszönen Nazikomplex bis hin zu finalen Vorgängen rund um so unterschiedliche Figuren wie Milosevic und Lady Di. Schmlos wurde in ausufernder Wellenbewegung beinahe alles.