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Paul Neurath war vom 1. April 1938 bis zum 27. Mai 1939 in den KZs Dachau und Buchenwald als jüdischer politischer Häftling inhaftiert. Nach seiner Entlassung, die möglich wurde, weil Neurath ein Visum hatte und die Entlassungssperre für auswanderungswillige jüdische Häftlinge für kurze Zeit aufgehoben wurde, floh er nach Schweden und gelangte 1941 in die Vereinigten Staaten. Bereits 1943 brachte er dort die Studie Die Gesellschaft des Terrors über Dachau und Buchenwald zum Abschluß, mit der er später an der Columbia-Universität in New York promoviert wurde. Seine Arbeit fand damals jedoch nur wenig Beachtung und blieb unpubliziert. Bei Kriegsende wußte die Öffentlichkeit nichts oder nur sehr wenig von den Lagern und danach überschatteten die Greuel der Vernichtungslager den Blick auf Konzentrationslager wie Dachau und Buchenwald.
Neuraths Schilderung seiner Beobachtungen und seine wissenschaftlich informierte Analyse der Verhältnisse und sozialen Strukturen in Dachau und Buchenwald bestechen nicht nur durch ihre Authentizität, sondern sind aufgrund ihrer zeitlichen Nähe zu den Ereignissen noch nicht geprägt von den späteren Deutungen. Ihre besondere Bedeutung verdankt die Studie aber vor allem der ungewöhnlichen Verschränkung von persönlicher Erfahrung und theoretischer Reflexion, dem ständigen Oszillieren zwischen dem distanziert-nüchternen Blick des Wissenschaftlers und dem des Häftlings. Als Augenzeugenbericht und soziologische Analyse ist seine Untersuchung ein bemerkenswertes historisches wie wissenschaftliches Dokument, das nun erstmals publiziert wird.
About the author
Nico Stehr ist Inhaber des Karl Mannheim Lehrstuhls für Kulturwissenschaften an der Zeppelin University, sowie Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Im akademischen Jahr 2002/2003 war er Paul-Lazarsfeld-Professor der Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Report
"Neuraths Text vermittelt uns keine neuen Erkenntnisse über die Lager, aber er ist ein soziologiegeschichtlich herausragendes Dokument aufgrund der "ungewöhnlichen Verschränkung von persönlicher Erfahrung und theoretischer Reflexion, dem ständigen Oszillieren zwischen dem distanziert-nüchternen Blick des Wissenschaftlers und dem des Häftlings", wie die Herausgeber treffend schreiben."
Friedrich Pohlmann Soziologische Revue