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Musik war ein wichtiges "Akkulturationsmedium" im deutschen Kulturraum; der Weg des Geigers Joseph Joachim (1831-1907) von Pest über Wien, Leipzig, Weimar, Hannover nach Berlin zeigt es beispielhaft. So zeichnet die bislang einzige Biographie, noch zu Lebzeiten von Joachim von seinem Schüler Andreas Moser (1896) geschrieben, die Geschichte eines Aufstiegs, in deren Zusammenhang die Gründung der Berliner Musikhochschule (1869) und die prägende Rolle Joachims für das deutsche Musikleben der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Krönung eines Weges erscheint, den der Geiger stellvertretend für das aufgeklärte Judentum seiner Zeit gegangen ist. "Gegengelesen" zeigt diese Geschichte jedoch schmerzliche Brüche und Verluste in den Wechselbeziehungen zwischen Biographie und künstlerischem Wirken.
Musik eröffnete im 19. Jahrhundert auch Frauen den Weg in eine eigenständige berufliche Existenz. So hatte die Altistin Amalie Schneeweiss (1839-1899) bereits seit ihrem 14. Lebensjahr auf der Bühne gestanden, bevor sie 1863 Joachim heiratete. Mit der Eheschließung endete zwar ihre Opernlaufbahn, begann jedoch ihre Auseinandersetzung mit dem Konzertgesang, so dass sie nach der Scheidung von ihrem Mann (1884) im Bereich des Lied- und Oratoriengesangs stilbildend zu wirken konnte. Ihr Lebensweg steht für wesentliche Aspekte der unaufgearbeiteten Sozialgeschichte von Sängerinnen im 19. Jahrhundert, ihre bislang unbekanntes künstlerisches Wirken für die Frage nach der Tradierung des Anteils von Frauen an der Entwicklung und Durchsetzung innovativer Konzepte vor allem im Bereich der Programmgestaltung.
Rezensionsnotiz - Die Zeit, 08.12.2005:
Beatrix Borchards ungewöhnliches Buch bietet in jeder Hinsicht mehr als nur die zwei Lebensgeschichten der Musiker Joseph und Amalie Joachim, verkündet die angetane Rezensentin Barbara Hahn. Zum einen verlangen Joseph einerseits und Amalie andererseits ganz unterschiedliche Ansätze. Während die Autorin die umfassend dokumentierte Biografie des Geigers und Komponisten Joseph Joachim "gegenlesen" musste, stellte sich ihr bei seiner Ehefrau, der Opernsängerin Amalie Joachim, ein völlig anderes Problem: Ihr Leben ist weitgehend verschüttet und Borchard habe diesen - für die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts symptomatischen - Umstand in einem Verfahren spürbar machen wollen, das sie "Lücken schreiben" nennt. Sehr spannend findet die Rezensentin zum anderen, wie Borchard sich dem Genre der Doppelbiografie verweigert und sich stattdessen die "Montage als biografisches Verfahren" zunutze macht, indem sie Dialoge aus den Briefen der beiden (später in einer Art "Donnerschlag" geschiedenen) Eheleute zusammenstellt. Fast schon gespenstisch erscheint der Rezensentin schließlich, dass es der Autorin in Abwesenheit jedes überlieferten Tondokumentes gelingt, nebenbei "eine Geschichte der Musik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" zu schreiben.
About the author
Adriana Hölszky lebt in Stuttgart und erreichte mit ihrer Kammeroper "Bremer Freiheit" internationales Ansehen. Komponieren ist für sie spielerisches Experiment mit Elementen europäischer Komposition, byzantinischer Kirchenmusik, türkischer Rhythmen und rumänischer Folklore. 1995 erfolgreiche Uraufführung der Oper "Die Wände" bei den Wiener Festwochen.