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Den Ausgang der Studie bildet eine Diskursgeschichte der polnischen Auseinandersetzung mit Charles Darwins Theorien während der ersten vier Jahrzehnte. Anschließend untersucht der Autor im Hauptteil (5 von 10 Kapiteln) die Adaption und Weiterentwicklung der darwinschen Ideenwelt auf dem Gebiet der polnischen Belletristik bis 1900. Gerade hier zeigen sich die verschlungenen Wege eines geistesgeschichtlichen Osmoseprozesses, der in wenigen Jahrzehnten vom oft mit harten Bandagen geführten Schlagabtausch über die neue evolutionistische Weltsicht hin zu einer kreativen Umschreibung (bzw. Umschreibung) darwinschen Gedankenguts führte. Die für Polen zentrale Metapher - diejenige vom 'Kampf ums Dasein' (polnisch: walka o byt) - wurde durch namhafte und weniger bekannte Schriftsteller der im 19. Jahrhunderts dreigeteilten polnischen Literatur weiterentwickelt. In der Kombination einer dualen, wissenschaftshistorischen und textinterpretatorischen Perspektive betritt die Arbeit Neuland. Der gewählte Ansatz entspricht dem Horizont der behandelten Belletristen, die - wie z. B. Adolf Dygasinski, Boleslaw Prus und Henryk Sienkiewicz - selbst eine 'Evolution' vom publizistischen Schreiben über Darwins Ideen zu einem fiktionalen Schreiben mit und nach Darwin vollzogen. Bereits früh zeigte sich auf dem Gebiet der Literatur, wie gefährlich die Übertragung sozialdarwinistischer Lesarten des Evolutionsgedankens sein konnten. Gerade die deutschsprachige Darwin-Exegese mit Protagonisten wie Ernst Haeckel, Ludwig Büchner und anderen, heute in Vergessenheit geratenen 'Darwinisten' fiel in den nach intellektueller Neuorientierung suchenden und dabei zunehmend in nationale Antagonismen verfallenden polnischen Teilungsgebieten auf fruchtbaren Boden. Daniel Schümann zeigt auf, wie die künstlerische Auseinandersetzung mit Darwin - und parallel dazu auch die politologische und gesellschaftstheoretische - um 1900 zunehmend im für Nicht-Polen nur noch bedingt zugänglichen Reich nationaler Mythen und Fiktionen aufging.
About the author
Daniel Schümann ist Privatdozent am Institut für slavische Literaturwissenschaft der Universität Bamberg.
Summary
Charles Darwin spaltet bis heute die Geister – vielleicht gerade deshalb, weil er den Geist als nachrangigen Faktor auch menschlicher Lebensverläufe begriff. Seine Theorie hat die Wissenschaften vom Geiste erschüttert. Als erste Monographie beleuchtet nun Daniel Schümanns Studie die Rolle der Literatur für die geistigen Prozesse, welche die Darwin-Diskurse nach Polen brachten. Das geteilte Polen war ein heterogenerer Kulturraum als das heutige Polen, was sich auch am Umgang mit Darwins Ideen zeigte: Zwischen 1860 und 1900 wurden dort diverse Konzepte von Polonität im Spannungsfeld zwischen Dämonisierung und unkritischer Idealisierung der Evolutionstheorie verhandelt. Die Frage, ob eher der ‚Kampf ums Dasein‘ – die Konkurrenz zu anderen Kulturen – oder der ‚Kampf ums Dabeisein‘ – die Orientierung an ihnen – die polnische Identität bestimmen soll, scheint auch im 20. und 21. Jahrhundert noch offen.