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Wie das Unfassbare darstellen? "Selbstverständlich könnte jemand die Augen mit jenem besonders starren Blick abbilden, der vom Hunger hervorgerufen wird; er könnte aber weder die Unrast der Mundhöhle, noch die unwillkürlichen Regungen der Speiseröhre aufleben lassen." Fotografischer Realismus ist nicht imstande, diese unsichtbaren, ja unvorstellbaren Erfahrungen mitzuteilen. Vielmehr bedarf es der literarischen Kunst eines Erzählers, der sich ganz in die Tiefe des Erlebten versinken lässt, zugleich aber die Distanz des Entronnenen mitbedenkt. Nekropolis erzählt beides zugleich: die Irrfahrt eines slowenischen Widerstandskämpfers durch die deutschen Konzentrationslager und die Erinnerungsversuche des Überlebenden, der in den frühen sechziger Jahren die Lager-Gedenkstätten auf Reisen besucht - von Dachau und Natzweiler bis Bergen-Belsen.
Es ist der Waschraum, der Galgen, der Ofen, der bei Pahor das Reich der Vergangenheit wiederauferstehen lässt - nicht wie bei Proust eine in Tee getunk te Madeleine. Aber in der Schärfe seiner Wahrnehmung, in seiner untrüglichen Psychologie, in seiner nie nachlassenden Fähigkeit, das Erlebte ins Blitzlicht einer Metapher zu tauchen, rückt dieser Autor an die Seite der großen Erzähler des 20. Jahrhunderts. Nicht nur thematisch berührt Nekropolis die Werke Primo Levis und Imre Kertesz'. Wie diese musste Pahor jahrzehntelang auf die Anerkennung seiner Kunst und jener Haltung warten, die man kaum mehr Humanität zu nennen wagt: die Bewahrung von Geist und Gefühl angesichts der äußersten Erniedrigung in Nekropolis, dem deutschen Todesreich.
About the author
Nach dem Anschluss Triests an Italien erlebte der hier 1913 geborene Slowene Pahor 1920 die faschistischen Unterdrückung der Minderheit. Nach der slowenischen Grundschule war ihm der Gebrauch der Muttersprache unter Mussolini verboten. Er besuchte das Gymnasium in Koper, wo er zwei Jahre Theologie studierte. 1940 wurde er zum italienischen Militär eingezogen und nach Libyen geschickt. Später arbeitete er als Dolmetscher für gefangene jugoslawische Offiziere am Gardasee. Nach dem Zusammenbruch des faschistischen Italien schloss er sich 1943 der slowenischen Volksbefreiungsbewegung an; am 21.1.1944 wurde er verhaftet und ins KZ gebracht. Bis Kriegsende durchlebte er vier deutsche Konzentrationslager, darunter Dachau; er verarbeitete in Novellen die KZ-Traumata, aus denen 1967 sein preisgekrönter Roman "Nekropolis" entstand. Nach der Freilassung studierte er in Padua. Von 1953 bis 1975 unterrichtete er an einem Gymnasium in Triest. 1955 veröffentlichte er den Roman "Villa am See", 1958 den autobiographischen Roman "Kampf mit dem Frühling", der sich mit den KZ-Erlebnissen auseinandersetzte und 2004 bei Kitab den Novellenband Blumen für einen Aussätzigen.