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Leidenschaft, Sehnsucht, Rücksichtslosigkeit, Begehren, Verzweiflung, Unbedingtheit, Selbstentblößung und -verhüllung, das "Außersichsein" - dieser durchgehaltene, unter Hochspannung stehende Impetus ist in "brütt" immer doppelt lesbar: auf die Liebe und auf den Text bezogen. In einem Brief an Joseph heißt es, die psychophysische Totale (des Schreibens und Liebens) bezeichnend: "[...] denn wir schreiben ja mit der Haut, mit den Haaren, mit den Augen, den Zähnen, dem Geruchs- und dem Geschmacksinn, gleicherweise mit der Pupille, der Muschel des Ohres, der Beweglichkeit des Blutes, dem Wasser Sog usw." In keinem ihrer Werke bisher ist Friederike Mayröcker so weit über Grenzen hinausgegangen (der Sprache, des Körpers, ja des 'Anstands'), in keinem hat sie wie in "brütt" alles auf eine Karte gesetzt [...]. Die Rücksichtslosigkeit dieses Schreibens / Liebens führt zu Sätzen wie "[...] ich denke, man kann gar nicht realistisch = radikal genug vorgehen oder man kann gar nicht realistisch = verrückt genug schreiben, was auch bedeutet, man kann gar nicht genug vernarrt sein in diesen oder jenen, in dieses oder jenes, Person oder Sache egal." Das liest sich wie die 'Behauptung' einer Absicht in der Mitte des Buches, die zu Beginn wie ein Wunsch, eine Hoffnung formuliert worden war: "[...] vielleicht kann ich [...] noch 1 paar glühende Verwüstungen, oder was, ins Endgültige, in die endgültige, ich meine in eine gültige Form bringen, usw." (Klaus Reichert)
About the author
Klaus Reichert,1938 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Von 1964 bis 1968 war er Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Universität, 1993 gründete er das "Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit". Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er schrieb Bücher über Shakespeare, Joyce, moderne Literatur und über die Geschichte und Theorie des Übersetzens, veröffentlichte drei Gedichtbände und ein Wüstentagebuch. Er übersetzte u.a. Shakespeare, Lewis Carroll, Joyce, John Cage und das Hohelied Salomos. 2013 wurde Klaus Reichert mit dem "Wilhelm-Merton-Preis" für europäische Übersetzungen ausgezeichnet.
Friederike Mayröcker, Jahrgang 1924, ist eine besessene Vielschreiberin und Sprach-Experimentiererin, die mit den Methoden der freien Assoziation und der surrealistischen Collage arbeitet und deren dichterisches Werk über 80 Bände umfasst. 2009 wurde sie mit dem Hermann-Lenz-Preis geehrt, im Jahr 2010 wird ihr der Horst-Bienek-Preis für Lyrik der Bayerischen Akademie der Schönen Künste verliehen.
Summary
Leidenschaft, Sehnsucht, Rücksichtslosigkeit, Begehren, Verzweiflung, Unbedingtheit, Selbstentblößung und -verhüllung, das »Außersichsein« – dieser durchgehaltene, unter Hochspannung stehende Impetus ist in »brütt« immer doppelt lesbar: auf die Liebe und auf den Text bezogen. In einem Brief an Joseph heißt es, die psychophysische Totale (des Schreibens und Liebens) bezeichnend: »[...] denn wir schreiben ja mit der Haut, mit den Haaren, mit den Augen, den Zähnen, dem Geruchs- und dem Geschmacksinn, gleicherweise mit der Pupille, der Muschel des Ohres, der Beweglichkeit des Blutes, dem Wasser Sog usw.« In keinem ihrer Werke bisher ist Friederike Mayröcker so weit über Grenzen hinausgegangen (der Sprache, des Körpers, ja des ›Anstands‹), in keinem hat sie wie in »brütt« alles auf eine Karte gesetzt [...]. Die Rücksichtslosigkeit dieses Schreibens / Liebens führt zu Sätzen wie »[...] ich denke, man kann gar nicht realistisch = radikal genug vorgehen oder man kann gar nicht realistisch = verrückt genug schreiben, was auch bedeutet, man kann gar nicht genug vernarrt sein in diesen oder jenen, in dieses oder jenes, Person oder Sache egal.« Das liest sich wie die ›Behauptung‹ einer Absicht in der Mitte des Buches, die zu Beginn wie ein Wunsch, eine Hoffnung formuliert worden war: »[...] vielleicht kann ich [...] noch 1 paar glühende Verwüstungen, oder was, ins Endgültige, in die endgültige, ich meine in eine gültige Form bringen, usw.« (Klaus Reichert)