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Der französische Arzt Séguin (1812 - 1880) ist der wissenschaftliche Begründer einer Pädagogik, die konsequent Entwicklung und Subjektivität geistig behinderter Menschen in den Mittelpunkt stellt. Gegenüber der "gewalttätigen Gleichmacherei" der Unterrichtsmethoden ist die "Achtung der Individualität" der erste Prüfstein für jeden Lehrer. Mit dieser radikalen Position war Séguin seiner Zeit (zu) weit voraus. Sein Werk nahm das Schicksal einer "Flaschenpost", die nur von wenigen aufgenommen und wieder auf die Reise geschickt wurde. Maria Montessori findet bei ihm entscheidende Fragen auf ihre Antworten. Lev Vygotskij schätzt Séguins Arbeiten als tiefgreifende, intuitive Vorwegnahme einer kulturhistorischen Theorie der geistigen Behinderung (die soziale Isolation als Resultat ihrer körperlichen Eingeschlossenheit ist der Schlüssel zum Verständnis geistig behinderter Menschen). Die einzige, bisher ins Deutsche übersetzte Schrift von Séguin ist das nach seiner Emigration in die USA dort 1866 erschienene Buch "Idiocy and its Treatment by the Physiological Method" (deutsch 1912). Bei der Vorbereitung der Neuauflage stellte sich heraus, dass die bisherige Übersetzung nach der amerikanischen Ausgabe von 1907 unvollständig ist. Die Originalausgabe von 1866 umfasst einen umfangreichen Anhang mit Fallbeispielen, der in der europäischen Diskussion bislang ohne jede Rezeption geblieben ist. Der vorliegende Text wurde auf der Basis dieser Originalausgabe unter Hinzuziehung der deutschen Erstauflage von 1912 neu bearbeitet bzw. übersetzt.