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Gute Schriftsteller sind immer unsichere Kantonisten. Offen gesagt: Mich interessieren nur die Schriftsteller, auf die man sich nicht verlassen kann, weil sie nicht berechenbar sind, schrieb Marcel Reich-Ranicki 1982. Und 10 Jahre später: Jedenfalls läßt der Ruhm von Günter Grass nur wenig nach: Er ist und bleibt Deutschlands erster und repräsentativster Schriftsteller. In der Tat, das Verhältnis Grass/Reich-Ranicki scheint von Anfang an unberechenbar: So soll der Kritiker den jungen Romanautor im Mai 1958 in Warschau als bulgarischen Spion enttarnt haben - eine Legende, deren erzählerische Gegendarstellung als Nachwort dieses Buches vorliegt -, und in 'Aus dem Tagebuch einer Schnecke' finden sich Episoden, die auf Erzählungen Reich-Ranickis zurückgehen. Bewunderung und Zweifel prägten das Verhältnis zwischen dem Kritiker und dem Autor, der gleich mit seinem ersten Roman Weltruhm erlangte und das literarische Leben seiner Generation repräsentiert. Seine Bücher immer wieder an diesem A nspruch zu messen, sie als Zeichen und Symptom der literarischen Entwicklung der Bundesrepublik zu verstehen, war das Ziel Marcel Reich-Ranickis, der bis auf das 'Tagebuch einer Schnecke' alle Romane und Erzählungen von Günter Grass rezensierte: von der 'Blechtrommel' bis zu den 'Unkenrufen'. Wachsam behielten sich Kritiker und Autor im Blick, skeptisch und liebevoll, aufmerksam und pointiert - Marcel Reich-Ranickis Aufsätze zu Günter Grass gewähren einen der fruchtbarsten Einblicke in die Literaturgeschichte der letzten dreißig Jahre.
Über den Autor / die Autorin
Marcel Reich-Ranicki, geboren 1920 in Wloclawek an der Weichsel, ist in Berlin aufgewachsen. Er war 1960 - 1973 ständiger Literaturkritiker der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" und leitete 1973 - 1988 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Redaktion für Literatur und literarisches Leben. In den Jahren 1968/69 lehrte er an amerikanischen Universitäten, 1971 - 1975 war er ständiger Gastprofessor für Neue Deutsche Literatur an den Universitäten von Stockholm und Uppsala, seit 1974 ist er Honorarprofessor an der Universität Tübingen, in den Jahren 1991/1992 bekleidete er die Heinrich-Heine-Gastprofessur an der Universität Düsseldorf. Seit 1988 leitete er das "Literarische Quartett" im Zweiten Deutschen Fernsehen.§Reich-Ranicki erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem: die Ehrendoktorwürde der Universitäten Uppsala, Augsburg, Bamberg und Düsseldorf, den Ricarda-Huch-Preis (1981), den Thomas-Mann-Preis (1987), den Bayerischen Fernsehpreis (1991), den Ludwig-Börne-Preis (1995), die Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität (2007), den Henri Nannen Preis für sein journalistisches Lebenswerk (2008), die Ehrenmedaille für Literatur der Ludwig-Börne-Stiftung (2010), den Internationalen Mendelssohn-Preis (2011) sowie den Kulturpreis der B.Z. für sein Lebenswerk (2012).§Marcel Reich-Ranicki verstarb im September 2013.